(Selbst)auflösung

In wenigen Monaten wählt Österreich einen neuen Nationalrat. Geplant ist die Wahl im Herbst, denn dann endet die fünfjährige Legislaturperiode. Zuletzt häuften sich allerdings Gerüchte, dass früher als vorgesehen gewählt wird. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich der Nationalrat vorzeitig auflöst. Und es wäre nicht das erste Mal, dass der Nationalrat nur eine Nebenrolle spielt.

Die vorgezogene Wahl gehört in Österreich zur politischen Normalität. Sowohl in der Ersten als auch in der Zweiten Republik wurden Legislaturperioden vorzeitig beendet. Der Nationalrat griff auf das seit 1920 bestehende Selbstauflösungsrecht zurück. Vor Ablauf der Gesetzgebungsperiode kann der Nationalrat seine Auflösung mit einfachem Gesetz beschließen.

Seit 1929 existiert zusätzlich die präsidiale Auflösung. Auf Vorschlag der Bundesregierung kann der Bundespräsident den Nationalrat “nur einmal aus dem gleichen Anlass” auflösen. Von diesem Recht machte bisher aber nur Bundespräsident Wilhelm Miklas im Herbst 1930 Gebrauch.

Wenn heute über eine vorgezogene Wahl debattiert wird, schwingt im Hintergrund ein parteipolitisches Kalkül mit. Auch aktuell lässt sich das Narrativ anhand der Frage festmachen: Was bringt eine Wahl im Mai der eigenen Partei? Doch um zu verstehen, warum der Nationalrat überhaupt vorzeitig aufgelöst werden kann, lohnt sich der Gang in das Archiv.

„Monarchische Gepflogenheiten”

Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall der Monarchie bastelten schlaue Köpfe an einer neuen Verfassung für die Republik. Bereits in den ersten Entwürfen war eine fixe Legislaturperiode des Nationalrats verankert, wobei gleichzeitig die Möglichkeit vorgesehen war, diese durch Auflösung zu verkürzen. Allerdings wurde noch vorgeschlagen, dass das Recht, die Legislaturperiode des Nationalrats vorzeitig zu beenden, dem Bundespräsidentin obliegen soll.

Im August 1920 wandten sich die Sozialdemokraten in der neunten Sitzung des Unterausschusses des Verfassungsausschusses gegen die präsidiale Auflösung. Ihrer Meinung nach erinnert diese Passage an „monarchische Gepflogenheiten“. Der Vorsitzende des Unterausschusses, Otto Bauer, warf ein, „dass stets, wenn es sich zeigt, dass eine Wahl ein anderes Ergebnis hätte, der Vertretungskörper aufzulösen und eine Neuwahl einzuleiten sei“.

Der Bundespräsident kam als Letztinstanz aber ebenso wenig infrage wie die Regierung. Es sei gefährlich, “wenn die Regierung darüber zu bestimmen vermag, den ihr günstigen Zeitpunkt zur Neuwahl eines Parlamentes durch rechtzeitige Auflösung des Hauses auszunützen”, hielt die Sozialdemokratie fest.  Nur der Nationalrat selbst dürfe in der Lage sein, seine Auflösung zu beschließen. Die Christlichsozialen stellten einen entsprechenden Antrag.

Am 1. Oktober 1920 beschloss die Konstituierende Nationalversammlung, dass die Gesetzgebungsperiode des Nationalrats vier Jahre dauert (Art. 27), der Nationalrat aber vor Ende der Gesetzgebungsperiode seine Auflösung durch einfaches Gesetz beschließen kann (Art. 29). Gründe, warum sich der Nationalrat auflösen soll, finden sich keine. Allerdings charakterisiert das Selbstauflösungsrecht das Prinzip der Parlamentsherrschaft, das mit der neuen Verfassung angestrebt wurde. Der Nationalrat war der oberste Träger der staatlichen Gewalt. Daher durfte dieses Organ von niemand anderem aufgelöst werden.

“Völlig frei”

Das änderte sich neun Jahre später. Die Verfassungsreform 1929 stärkte die Rechte des Bundespräsidenten und schwächte jene des Parlaments. In der Nationalratsdebatte war von einem Übergang von einem “System der reinen Parlamentsherrschaft zum System einer Präsidentschaftsrepublik mit parlamentarischer Verantwortlichkeit der Vollziehung” die Rede. Seitdem existieren in Artikel 29 des Bundes-Verfassungsgesetzes sowohl das Selbstauflösungsrecht als auch das präsidiale Auflösungsrecht. Die Legislaturperiode wurde in der Zwischenzeit auf fünf Jahre erhöht.

Nach Ansicht des Verfassungsexperten Georg Lienbacher ist der Nationalrat “völlig frei”, sich durch Gesetz aufzulösen, ohne dass Gründe wie etwa die Funktionsunfähigkeit und mangelnde Repräsentanz vorhanden sein müssen. Auch der frühere Staatsrechtler Kurt Ringhofer schrieb: “In der Sache selbst sind aber dem Nationalrat keinerlei Schranken gezogen, er kann seine Auflösung beschließen, wann immer er das für politischen zweckmäßig erachtet.”

Eine Selbstauflösung lässt sich aber durchaus mit der Funktionsunfähigkeit und mangelnden Repräsentanz argumentieren: Kommt es wegen knapper Mehrheitsverhältnisse zu Blockaden, könnte der Nationalrat das Patt mit einer Selbstauflösung beenden. Oder: Repräsentieren die politischen Kräfte in ihrer Gewichtung zueinander nicht mehr die im Wahlvolk vorhandenen Kräfteverhältnisse, so ist es dem Nationalrat durch Selbstauflösung möglich, die tatsächliche Repräsentanz wieder herbeizuführen.

Parlamentarische Regierung

In der Theorie klingt das alles sehr nach einer Sache des Nationalrats. In der Praxis hängt die Selbstauflösung aber vielmehr von der Regierung ab. So schrieb Staatsrechtler Helmut Widder vor mehr als 50 Jahren, dass die Konstruktion des Selbstauflösungsrechts in der politischen Realität umfunktioniert worden sei. “War sie ursprünglich als Konfliktregelungsmechanismus für parlamentarische Krisen gedacht, so wird sie durch die Aktionsgemeinschaft von Regierung und Parlamentsmehrheit zur Lösung von Regierungskrisen gehandhabt.”

Er führt mehrere Beispiele an, an denen zu sehen ist, wie sich Regierungsparteien in die Haare kriegen und am Ende der Nationalrat mit einfachem Gesetzesbeschluss aufgelöst wird. “Selbstauflösungsbeschlüsse boten sich für Regierungen und Regierungsfraktionen als ideale Lösung für politische Konflikte an, ohne daß die Exekutive gezwungen wird, das anrüchige Mittel der Parlamentsauflösung (durch den Bundespräsidenten, Anm.) einzusetzen.”

1927 war es etwa eine Regierungsvorlage, die zur Auflösung des Nationalrats führt, und 1956 wurden die ÖVP-SPÖ-Mehrheit als “Handlanger der Regierung” kritisiert. Auch 1971, als die SPÖ eine Minderheitsregierung stellte, war es keine parlamentarische Krise, die zu einer Selbstauflösung führte, sondern parteitaktische Gründe waren der Auslöser.

Die regierende SPÖ hatte in der Debatte über ihren Antrag keinen Grund für die Selbstauflösung des Nationalrats genannt. Doch schon ein Jahr zuvor hatte der neue Kanzler Bruno Kreisky mit Blick auf die Minderheitsregierung betont: “Sollte aber die Bundesregierung für gesetzliche Vorlagen, die ihr für das Wohl des Landes unerläßlich erscheinen, keine Mehrheit erhalten, so wird sie in Übereinstimmung mit der Bundesverfassung beantragen, dem österreichischen Volk die Möglichkeit der Entscheidung zu bieten.”

Koalitionsende = Neuwahl?

Die Liste der Beispiele ist lange und kann um jüngere Selbstauflösungen ergänzt werden, etwa um jene 2008, als es zwischen den Regierungsparteien ÖVP und SPÖ krachte. Die ÖVP erklärte in der Debatte recht wortgewaltig, warum sie nicht mehr mit der SPÖ in der Regierung zusammenarbeiten kann. Man beendete also nicht ausschließlich die Zusammenarbeit, sondern auch gleich die Legislaturperiode des Nationalrats, die gerade mal zwei Jahre andauerte.

Die Selbstauflösungen 2017 und 2019 sind ähnlich gelagert, haben sie ihre Ausgangspunkte jeweils in Regierungskrisen. In beiden Fällen war es Sebastian Kurz (ÖVP), der Neuwahlen ausrief. Kurioserweise kündigte er 2017 als Regierungsmitglied im Außenministerium an, dass er eine Neuwahl will, obwohl er damals noch kein ÖVP-Chef war. Am Ende war es ein Allparteienantrag, der die Selbstauflösung möglich machte.

Noch spannender ist das Jahr 2019. Die “Ibiza”-Affäre hat der FPÖ das Regierungsmandat gekostet. Kanzler Kurz sagte im Bundeskanzleramt, dass er dem Bundespräsidenten vorgeschlagen hat, schnellstmöglich Neuwahlen durchzuführen. Das wäre formal richtig. Doch zu einer präsidialen Auflösung kam es nicht. Stattdessen sprach der Nationalrat der ÖVP-geführten Regierung zunächst das Misstrauen aus, wenig später löste er sich auf.

Was, wenn es nicht kriselt?

Warum muss bei Regierungskrisen der Nationalrat dran glauben? Wäre es nicht auch möglich, die Abgeordneten weiter arbeiten zu lassen? Es könnten sich neue Mehrheiten finden. Das kostete Zeit und Nerven. Ein Koalitionsprogramm schreibt sich nicht über Nacht. Außerdem hat man nicht mit allen eine solide Gesprächsbasis. Dann lieber doch die Tabula-rasa-Methode: Nationalrat löst sich auf, das Wahlvolk entscheidet erneut.

Und was, wenn es in der Koalition, also zwischen den Koalitionsparteien im Nationalrat, nicht kriselt?

Ob der aktuelle Nationalrat von seinem Recht, die Legislaturperiode vorzeitig zu beenden, Gebrauch machen wird, ist zum Zeitpunkt des Artikels unklar. Die Regierungsfraktionen und Regierungsmitglieder bemühten sich zuletzt um das “Wir arbeiten weiter”-Narrativ. Neuwahlanträge aus der Opposition wurden im Nationalrat nicht angenommen. Sollte es dennoch zu einer Selbstauflösung kommen, sollten zumindest die Gründe genannt werden.

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