Kanzlerbefragung

Kanzlerbefragungen in einem Untersuchungsausschuss sind ein zweischneidiges Schwert: Zum einen sind öffentlichkeitswirksam, zum anderen versprechen sie mehr als sie am Ende halten. Am 2. März 2022 war Bundeskanzler Karl Nehammer im ÖVP-Korruptions-Untersuchungsausschuss geladen. Ich habe das (vorläufige) stenografische Protokoll dieser Befragung ausgewertet.

Inhaltlich war die Befragung – wie erwartet – mau. Das hat mehrere Gründe: Es wurden noch nicht alle Akten aus den Behörden geliefert, Nehammer war unter der ÖVP-FPÖ-Regierung (2017-2019) Abgeordneter zum Nationalrat und unter der ÖVP-Grünen-Regierung zunächst Innenminister. Der gewichtigste Grund lautet: „Geschäftsordnungsdebatte“.

Hintergrundwissen

Die Geschäftsordnung des Nationalrats ist das Regelwerk, nach dem das Parlament funktioniert. Für Untersuchungsausschüsse existiert in der Geschäftsordnung eine Verfahrensordnung. Darin sind auch Regeln zu den Befragungen und zum Ablauf des U-Ausschusses zu finden. So hat der/die Vorsitzende eine Befragung “nach längstens vier Stunden für beendet zu erklären” – nicht inkludiert sind die Erstbefragung durch den/die Verfahrensrichter:in, die einleitende Stellungnahme der Auskunftsperson und Sitzungsunterbrechungen (z.B. Stehungen). Das bedeutet, dass die gesamte Befragungszeit inklusive Debatten zur Geschäftsordnung (“zur Geschäftsbehandlung”) vier Stunden nicht überschreiten darf.

Nun gibt es noch zwei wesentliche Punkte, die beachtet werden müssen: 1. Die Auskunftsperson ist in ihren Antworten an keine Zeitbeschränkung gebunden. Sie kann ausführlich antworten – oder auch ganz kurz. 2. Die UA-Mitglieder (Abgeordnete der Fraktionen) stellen ihre Fragen im Rundensystem und müssen sich in jeder Befragungsrunde an ein definiertes Zeitlimit halten. Ist diese Zeit vorbei, startet die nächste Fraktion. Stellt ein Abgeordneter in der ersten Runde kurze Fragen und antwortet die Auskunftsperson ausführlich, kostet das den restlichen Fraktionen Zeit.

Im ÖVP-U-Ausschuss hat man sich auf folgendes Schema geeinigt: Es gibt zwei fixe Fragerunden & eine flexible Fragerunde. 1. Runde: sechs Minuten; 2. Runde: fünf Minuten; 3. Runde: Individuell nach Beratungen unter den Fraktionen und mit dem Vorsitz. Die Befragungen finden in der Reihenfolge V-S-F-G-N mit jeweils wechselndem Beginn pro Auskunftsperson statt. So startete die Befragung von Bundeskanzler Nehammer mit den Fragen der ÖVP, dann SPÖ, FPÖ, Grüne & NEOS.

Auswertung

Ich habe das (vorläufige) stenografische Protokoll der Kanzlerbefragung vom 2. März 2022 quantitativ ausgewertet und geschaut, wer Herr:in der Befragung war. Eine solche Analyse hat so ihre Mängel, aber ihre Stärke liegt darin, zu sehen, wer den Rhythmus im parlamentarischen Kontrollgremium vorgibt. Die Auswertung wurde anhand von “Zeichen mit Leerzeichen” erstellt, da Uhrzeiten in den stenografischen Protokollen gar nicht oder nur spärlich angeführt werden.

Alle Fraktionen konnten Nehammer Fragen stellen, über die erste Fragerunde kam man in den vier vorgesehenen Stunden nicht hinaus. Das lag an den Rufen zur Geschäftsordnung, um die Zulässigkeit von Fragen zu klären oder um Statements abzugeben. Diese Wortmeldungen werden hier als „GO“ angegeben.

An der Gesamtdauer (vier Stunden) hatte die SPÖ-Befragung mit 42 Prozent den größten Anteil. Den geringsten Anteil hatte die ÖVP-Befragung mit neun Prozent. Allerdings waren 51 Prozent der Befragung GO-Wortmeldungen. Es wurde also mehr debattiert als gefragt.

ÖVP-“Zange”

Für gewöhnlich melden sich Abgeordnete zu Wort, wenn sie einen Einwand gegen eine Fragestellung erheben wollen, oder Fragen an den Verfahrensrichter haben. Die ÖVP hatte in den GO-Wortmeldungen ein deutliches Übergewicht. Für die Partei meldeten sich insbesondere die Abgeordneten Hanger und Stocker zur Geschäftsordnung. Über alle Befragungen der einzelnen Fraktionen hinweg stieß Hanger 17-mal eine GO-Debatte an, Stocker 23-mal. Vergleich: Krainer (SPÖ) startete viermal eine GO-Debatte, Hafenecker (FPÖ) einmal.

Indirekt sorgte Vorsitzender Sobotka (ÖVP) zweimal für eine GO-Debatte, indem er Fragen in den Raum warf und sich die ÖVP dann zur Geschäftsbehandlung meldete. Mindestens fünfmal wendete sich Sobotka während der Befragung aktiv an Verfahrensrichter Pöschl (ich erinnere daran, dass Vorsitzende:r und Verfahrensrichter:in keine Mitglieder des U-Ausschusses sind, aber freilich auch einen GO-Redeanteil haben, weil sie das Wort erteilen müssen, oder erklären, warum eine Frage nicht gestellt werden darf). Ein paar Mal stellte Bundeskanzler Nehammer die Zulässigkeit von Fragen infrage, was zu weiteren Debatten führte.

Läuft eine GO-Debatte, kann diese länger dauern. Bei der Kanzlerbefragung kam es zu einer ÖVP-„Zange“: Mindestens 7-mal meldeten sich Hanger und Stocker ohne Gegenposition anderer Fraktionen nacheinander zur GO, um die Zulässigkeit von Fragen anderer UA-Mitglieder zu bestreiten.

Mit dieser Vorgehensweise verlängert sich eine GO-Debatte (es gab nur drei Stehungen, bei denen debattiert, aber die Zeit angehalten wurde). Hanger, Stocker, die viele Fragen bestritten, und Krainer, der meist seine eigenen Fragen „verteidigen“ musste, liegen in der GO-Wertung unangefochten vorne (grauer Balken).

Befragungen der Fraktionen

ÖVP-Befragung: In der ÖVP-Befragung konnte BK Nehammer ausschweifend auf manchmal unkonkrete Fragen antworten. Untypisch ist, dass der GO-Anteil der ÖVP in der eigenen Befragung am höchsten ist. Die anderen Fraktionen vermieden offenbar GO-Debatten, um Zeit zu sparen. Es gab eine Stehung.

In der SPÖ-Befragung dominierten die GO-Debatten, angetrieben von der ÖVP, die in der fremden Befragung den höchsten Redeanteil hatten. Trotz Endlosdebatten gab’s hier nur zwei Stehungen (Aufgabe des Vorsitzes). Krainer stellte Fragen, die die Partei ÖVP tangierte: ÖVP rief zur GO.

Ereignislos verlief die FPÖ-Befragung, in der es um den Thinktank im Bundeskanzleramt und um Postenbesetzungen unter Nehammer als Innenminister ging. Hafenecker fragte ausführlich und Nehammer antwortete ausführlich, was zu weniger Fragen & abwechslungsärmeren Antworten führte. Die einzige GO-Debatte führte die ÖVP.

Zwar hatten die Grünen in ihrer Befragung den größten Redeanteil, aber GO-Debatten dominierten den Fluss. Abermals stach die ÖVP hervor, die sich bei Fragen, die die Partei ÖVP betrafen, zur GO meldete. Vielfach waren Fragen unzulässig. Grund: Parlament kontrolliert Exekutive.

In der NEOS-Befragung war der GO-Anteil niedriger, Krisper stellte kurze Fragen, Nehammer antwortete ausführlich. Die ÖVP meldete sich abermals am öftesten zur GO (Hanger gab ein längeres GO-Statement ab), aber Krisper ließ sich darauf viel weniger ein als andere UA-Mitglieder.

Fazit: Der Fragerhythmus bei der Kanzlerladung war deutlich von – hauptsächlich von ÖVP ausgelösten – Geschäftsordnungsdebatten geprägt. Eine richtige Befragung kam selten auf.

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2 Kommentare zu Kanzlerbefragung

  1. Thomas sagt:

    Ist das Protokoll öffentlich zugänglich bzw. Wieso beklommen das Journalisten vorab?

    • Jürgen Klatzer sagt:

      Es handelt sich um das vorläufige Protokoll. Das ist nicht öffentlich zugänglich, weil alle Beteiligten die Chance erhalten, etwaige Korrekturen (keine inhaltlichen) vorzunehmen. Journalist:innen erhalten das Protokoll auch nicht vorab.

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