Sichtbare Spitze

Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat am 13. Dezember 2001 entschieden: “Die Wortfolge ‘wegen der verhältnismäßig beträchtlichen Zahl (ein Viertel) der dort wohnhaften Volksgruppenangehörigen’ […] wird als verfassungswidrig aufgehoben.” So einfach der Satz auch klingen mag, so verzwickt und frustrierend war seine politische Vorgeschichte. Der Ortstafelstreit wurde außerhalb Kärntens lange Zeit nicht ernst genommen. Erst spät wurde klar, dass die zweisprachige Beschilderung „nur“ die sichtbare Spitze eines tiefenkulturellen Konflikts war, der auf anderem Weg gelöst werden muss. Ein Rückblick.

Jahrelang beriefen sich Politiker und Politikerinnen im Kärntner Konflikt auf jene Klausel im Volksgruppengesetz 1976, die besagte, dass zweisprachige Ortstafeln nur dort aufzustellen sind, in denen der Anteil der slowenischsprachigen Volksgruppenmitglieder bei 25 Prozent liegt. Damit habe man, so die Argumentation, die Minderheitenrechte, die im Artikel 7 des Staatsvertrages 1955 festgeschrieben wurden, erfüllt.

Für die Höchstrichter und Höchstrichterinnen am Verfassungsgerichtshof war die 25-Prozent-Klausel allerdings zu hoch, sie widersprach der Intention des Artikels 7 und war somit verfassungswidrig. Der damalige Ständige Referent am Verfassungsgerichtshof, Gerhart Holzinger, sagte in einem Interview, dass man sich die Entstehungsgeschichte des Staatsvertrages angesehen habe und zum Schluss gekommen sei, dass “die [damaligen] Vertragsparteien offensichtlich gewillt waren, einen möglichst niedrigen Prozentsatz für die Rechte der Minderheiten anzugeben.”

Gut gemeint, aber …

Dazu muss man wissen, dass das Volksgruppengesetz 1976 zu einer Zeit beschlossen wurde, als der Konflikt in Kärnten seinen Höhepunkt erreicht hatte. Ausgangspunkt war der nicht umgesetzte Artikel 7 und einer der Auslöser das sogenannte Ortstafelgesetz, das im Juli 1972 im Nationalrat beschlossen wurde. Das Gesetz sah die Anbringung von zweisprachigen topographischen Aufschriften in 205 Ortschaften von 31 Gemeinden vor – basierend auf einem Anteil von 20 Prozent slowenischsprachiger Bevölkerung (Volkszählung von 1971).

Die Initiative ging von den damaligen SPÖ-Spitzenpolitikern, Bundeskanzler Bruno Kreisky und Landeshauptmann Hans Sima, aus. Sima, der bei der Kärntner Landtagswahl 1970 die Absolute holte, mahnte schon im Wahlkampf die längst überfällige Erfüllung des Artikel 7 des Staatsvertrages 1955 an. Im Bund fand er – was wegen des heißen Eisens Ortstafelstreit nicht selbstverständlich war – mit Kreisky einen Verbündeten, der mit der SPÖ im Bund ebenfalls die Mehrheit stellte. Am 6. Juli 1972 konnte die SPÖ im Alleingang das Ortstafelgesetz beschließen.

Was folgte, war der “heißeste politische Herbst seit dem Oktoberstreik 1950”, wie Kreisky-Berater und Spitzendiplomat, Wolfgang Petritsch, später resümierte. Ende September 1972 wurden die ersten zweisprachigen Ortstafeln unter Hasstiraden aufgestellt. Wenige Tage später wurden sie – teilweise mit stiller Duldung der Kärntner Exekutive – demoliert und beseitigt. Laut Petritsch bezeichnete Kreisky den Ortstafelsturm später als “größte nazistische Demonstration nach dem Krieg”.

Zwar wollten Bundeskanzler und Landeshauptmann noch vermitteln, der Konflikt aber eskalierte. Nach einem Auftritt in der Klagenfurter Arbeiterkammer im Oktober 1972 wurde Kreisky von Hunderten Demonstrierende mit wüsten Beschimpfungen empfangen (Ex-ORF-Journalist Eugen Freud erinnert sich). Der Kanzler wollte sich die gute Beziehung zu den Nachbarstaaten nicht “von ein paar pfeifenden Gassenbuben zerstören” lassen und verließ das Gebäude entgegen der Empfehlungen der Polizei durch die Vordertür: “Ein österreichischer Bundeskanzler verlässt das Haus nicht durch die Hintertür.”

Der Rückzug

Kreisky und Sima konnten trotz des guten Willens nicht reüssieren. Das Ortstafelgesetz, das ohne Einbindung der Interessensverbände durchgepeitscht wurde, bedeutete das politische Aus für den “Stern des Südens” (Sima) und eine herbe Niederlage für den “Sonnenkönig” (Kreisky). Petritsch schrieb später, dass sich der populäre SPÖ-Chef zu sicher gewesen sei, den tiefenkulturellen Konflikt in Kärnten mit einem Gesetz zu lösen: “Kein andere politischer Misserfolg hat Kreisky zeit seines Lebens mehr irritiert als sein Zurückweichen vor den wüsten Ausfällen in der Klagenfurter Bahnhofstraße.”

Nach drei Jahren, in denen man einen Weg aus der Kärntner Sackgasse finden wollte, beschloss der Nationalrat – dieses Mal mit allen im Parlament vertretenen Parteien (SPÖ, ÖVP und FPÖ) – das Volksgruppengesetz 1976 und eine Novelle des Volkszählungsgesetzes. Geplant war, dass anhand der Ergebnisse einer “geheimen Erhebung der Muttersprache“ im November 1976 dort zweisprachige Ortstafeln aufgestellt werden, wo 25 Prozent der Bevölkerung slowenischsprachig sind.

Die Ergebnisse der Volkszählung waren aber unbrauchbar, weil die Volksgruppenvertreter die bundesweite “Minderheitenfeststellung“ als diskriminierend empfanden und deshalb boykottierten. Für die spätere Ortstafelregelung wurden daraufhin andere Parameter herangezogen. Statt der 205 Ortstafeln von 1972, die dem Ortstafelsturm zum Opfer fielen, sollten es vier Jahre später 91 zweisprachige Ortstafeln in acht Gemeinden sein.

Verordnung 1977

Von den im Mai 1977 insgesamt 91 verordneten Topographien wurden laut dem Historiker Stefan Karner bis 2002 lediglich 72 aufgestellt.

Khol als Ideengeber

Nach dem Volksgruppengesetz 1976 dachte die Politik, das Ortstafel-Kapitel beendet zu haben. Doch die Volksgruppenvertreter übten in regelmäßigen Abständen harsche Kritik an der 25-Prozent-Regel. Doch erst eine – je nach Erzählweise absichtliche oder unabsichtliche – Geschwindigkeitsübertretung des Slowenisch-Kärntner Rechtsanwalts Rudi Vouk brachte wieder mehr Bewegung in die Causa. Der Jurist fuhr 1994 um 15 km/h zu schnell durch das einsprachig beschilderte St. Kanzian und, so erzählte er später, wollte an Ort und Stelle die Strafe nicht bezahlen.

Auslöser dafür war offenbar der damalige Klubchef der ÖVP, Andreas Khol. Während man bei anderen Parteien mit der Forderung, gegen die 25-Prozent-Klausel aufzutreten, abblitzte, hatte Khol geraten, man könne doch einen Strafbescheid anfechten, um so vor den VfGH zu landen. Dieser müsse nämlich aufgehoben werden, wenn die Ortstafel zweisprachig sein sollte. “Ich habe damals einfach einen Rat als Jurist gegeben“, sagte Khol später.

Der juristische Rat Khols, also wie der Verfassungsgerichtshof mit dem Volksgruppengesetz 1976 und dessen Verordnungen befasst werden kann, ist Vouk durch den Kopf gegangen, als er am 6. September 1994 um 17.25 Uhr in St. Kanzian/Škocjan aufgehalten wurde. Er sagte zu den Polizisten: “Zeigt mich an. Probieren wir es einmal mit der Argumentation, dass die Ortstafel nicht gilt, weil sie nicht richtig kundgemacht wird, weil sie zweisprachig sein müsste.”

Von “beträchtlich” zu “gemischt”

Sieben Jahre später prüfte das Höchstgericht unter den damaligen Präsidenten Ludwig Adamovich junior von Amts wegen die 25-Prozent-Regel und hob diese auf – Auslöser war eben die Beschwerde Vouks. Dieser musste die Strafe in Höhe von 500 Schilling wegen der Geschwindigkeitsübertretung zwar zahlen, weil St. Kanzian trotz der einsprachigen Beschilderung ein Ortsgebiet ist. Doch sein Ziel hat er erreicht, “auf eine im Effekt sehr problematische Weise, die freilich auf den Eigenheiten der Verfassungsgerichtsbarkeit beruht”, so Adamovich später. Man kann nämlich nicht direkt ein Gesetz bekämpfen, sondern muss in aller Regel einen auf das Gesetz gestützten Verwaltungsakt anfechten.

Begründet wurde die Aufhebung der 25-Prozent-Regel schließlich mit einer Textänderung im Entwurfsstadium des Artikel 7 des Staatsvertrages 1955. Es stellte sich nämlich heraus, “dass die britische Besatzungsmacht zunächst eine Textierung vorschlug, wonach der Minderheitenschutz in jenen Gebieten bestehen sollte, die einen ‘beträchtlichen Anteil’ von Angehörigen der Minderheit aufweisen”, erklärte das frühere VfGH-Mitglied Kurt Heller. Der britische Textvorschlag wurde zu Gunsten der sowjetischen Forderung, wonach Gebiete mit Minderheitenschutz überall bestehen sollten, wo es eine “gemischte Bevölkerung” gibt, fallen gelassen.

Die Vertragsparteien einigten sich auf die sowjetische Fassung und als Kompromiss verzichtete die Sowjetunion daraufhin auf eine Änderung Südgrenze (Stichwort Kärntner Volksabstimmung 1920) zu Gunsten Jugoslawiens. Das frühere VfGH-Mitglied Holzinger erklärte im Gespräch: “Wir gaben mit zehn Prozent einen verfassungskonformen Hinweis, wie man es machen könnte.” Eine 10-Prozent-Klausel hätte zur Folge gehabt, dass mehr als 400 Ortschaften zweisprachige Ortsbezeichnungen erhalten müssen.

Haiders Tiefenkultur

Nach dem Erkenntnis attackierte der damalige Kärntner Landeshauptmann, Jörg Haider (FPÖ), nicht nur den VfGH, sondern auch dessen Präsidenten, Adamovich, heftig: Das Höchstgericht habe rechtswidrig gehandelt; man werde den Verfassungsgerichtshof zurechtstutzen; „Wenn einer schon Adamovich heißt, muss man zuerst einmal fragen, ob er überhaupt eine aufrechte Aufenthaltsberechtigung hat.“

Haiders Angriffe auf Adamovich und den VfGH fanden kein Ende, gleichzeitig schwieg die damalige ÖVP-FPÖ-Regierung. Sogar in vielen TV-Diskussionen überließ man dem Kärntner Landeshauptmann großteils das Feld. Die Auseinandersetzung gipfelte in einer von Adamovich selbst veranlassten Prüfung, ob ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn notwendig ist. Die Entscheidung fiel gegen ein Verfahren aus. In seiner Autobiografie schrieb der heutigen Berater des Bundespräsidenten, dass die Ortstafelfrage “primär keine parteipolitische Angelegenheit [war], sie wurde von Jörg Haider dazu gemacht.”

Nach langem Zaudern, Zögern und Ignorieren wurde zehn Jahre nach dem VfGH-Erkenntnis in der sogenannten Konsensgruppe schließlich ein Kompromiss erzielt, mit dem zwar nicht alle glücklich waren, aber der akzeptiert wurde. Zweisprachige Ortstafeln sind überall dort aufzustellen, wo der Anteil der slowenischsprachigen Bevölkerung 17,5 Prozent beträgt – auf Basis der Volkszählung 2001 sind das 164 Ortschaften.

Der Kompromiss basierte auf einem Dialogprozess zwischen slowenischsprachigen und deutschsprachigen Interessensverbänden, die nicht nur über die sichtbare Spitze des Konflikts verhandelten, sondern sich auch mit den Traumata und Urängsten (z.B. Vertreibung, Verschleppung, Verfolgung) der Gegenüber auseinandersetzen mussten.

Quellen:

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